Women’s and Girls’ Library

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The library was inaugurated in 1994 and has been growing ever since. Through their continuous work, it was possible to extend the inventory of the Women's and Girls' Library to over 4500 books and brochures. In addition to almost 900 works of fiction (novels, stories, poetry), about 350 women's biographies and over 400 crime novels, lesbian and queer literature (novels and non-fiction) as well as 800 non-fiction books on women's history, the women's movement and women in the present as well as specialist literature for girls are important specialist fields.

In addition to the maintenance of the inventory, lending and cooperation with women's book publishers, the organisation of readings is one of the main fields of activity. Our archives contain periodicals of women's movements collected since the fall of communism.

Offers of the Women’s and Girls’ Library:

- Lending
- Research support (e.g. for students)
- Women's and lesbian magazines
- Organisation of (author’esses) readings
- Contacts with publishers of women’s books and other publishers
- Archive for "Lilith" and other women's and lesbian magazines


 Book reviews from Dr. habil. Viola Schubert-Lehnhardt  (in german)

Nadia Durrani und Brian Fagan. Was im Bett geschah. Eine horizontale Geschichte der Menschheit. 


Aus dem Englischen Übersetzt von Holger Hanowell. Reclam jun. Verlag GmbH Stuttgart, 2022, ISBN 978-3-15-011337-8, 269 S.


„Die zeitliche Einordnung, wann wir Menschen zum ersten Mal Betten benutzten, hängt davon ab, wie man ein Bett definiert“ (S. 18). Entsprechend dieses grundlegenden Ausgangspunktes der Recherche werden im Buch in Wort und Bild zunächst historische Schlafstätten oder -möglichkeiten vorgestellt. Diese werden im Kontext ihrer Zeit weiter erläutert, sodass die Leserschaft nicht nur etwas über die jeweilige gesellschaftliche Bedeutung der Ruhe-, Protz- oder Arbeitsstätte (denn auch dafür wurden Betten vor allem in Königshäusern genutzt), sondern auch über mit dem Thema Schlafen (oder auch nicht) stehende Zusammenhänge. So wurde in London im 19. Jh. die erste Berufspolizei gegründet, um die Zeit des Schlafens sicherer zu machen und besser zu schützen.

Überhaupt werden die Tätigkeiten im Bett ausführlich dargestellt – Regieren, Sex, Gebären, Erholen, Sterben. Gerade bei letzterem gab es zahlreiche Zeremonien, vor allem für Könige. Gleiches gilt für das Gebären. Bei beiden Tätigkeiten waren die zahlreichen Gäste eher lästig denn hilfreich. Das galt (und gilt) auch für andere Mitbewohner von Schlafstätten, deren Austreibung wird ebenfalls beschrieben.

In einigen Haushalten gab es mehrere Betten (Prunk- und Nutzbetten), über deren jeweilige Vererbung Amüsantes zu lesen ist. Insofern gibt das Buch auch Auskunft dazu, wann und warum das Bett zur Privatsache/Privatsphäre geworden ist (S. 199 ff.). Genau weiß man dies nicht, denn das Thema Privatsphäre tauchte in allen häuslichen Bereichen überhaupt erst Ende des 18. Jh. auf. „1875 erschien im Magazin Architect ein maßgebender Essay, in dem es hieß, Schlafzimmer seien allein dem Schlafen vorbehalten. Jede andere Nutzung sei so ungesund wie unmoralisch … nicht nur das gemeinschaftliche geteilte Schlaflager wurde als unmoralisch betrachtet – selbst das kleinste städtische Haus sollte zwei Schlafzimmer aufweisen, eines für die Eltern, das andere für die Kinder …“ (S. 208).

Abschließend wird auf sich verändernde Räume und Schlafstätten eingegangen. Die Zukunft läge bei smart furniture, diese kommen nicht nur von der Decke (um tagsüber Platz zu sparen), sondern enthalten auch alle Funktionen, um steuernd Haushalt und Arbeit zu erledigen. Diese Kapselbetten steuern also nicht nur Temperatur und Beleuchtung, sondern blenden anderweitige störende Geräusche aus, enthalten dazu aber Massagesysteme u. a. m.

Angesichts dieser Aussichten geht die Rezensentin jetzt in ihr Bett aus dem 20.  Jh. und nimmt ein ebenso veraltetes, auf Papier gedrucktes, Buch mit …


Manfred Paulus: Zuhälterei gestern und heute. Über Hurenwirte, Kiezkönige und die Sexsklaverei der Mafia. 


Promedia Verlag Wien 2022, ISBN 978-3-85371-500-0, 224 S. 


Der Autor Manfred Paulus war jahrzehntelang als Kriminalkommissar im Rotlichtmilieu tätig und ist somit ein exzellenter Kenner der Szene. Er beschreibt zunächst die Geschichte der Prostitution von der Antike an und geht dabei insbesondere auf einer beteiligte Partei ein, die oftmals in Betrachtungen zur Prostitution vernachlässigt wird bzw. überhaupt nicht auftaucht – den Zuhälter. Zu Recht schreibt er in der Einführung, dass deren Tun häufig als marginales und gesellschaftlich wenig bedeutsames Geschehen eingestuft wird und deshalb außerhalb der Betrachtung bleibt. Es handele sich jedoch „in zunehmenden Maße um verbrecherische Banden oder Clans, die der … gefürchteten Organisierten Kriminalität (OK) zuzuordnen sind und längst eine größere ´gemeine Gefahr für Staat und Gesellschaft´ darstellen als jemals zuvor“ (S. 7). Diese These belegt er im 4. Kapitel mit ausführlichen Beschreibungen von Clans, Großfamilien, Rocker- und rockerähnlichen Gruppierungen und deren Geschäftsfeldern, nicht nur in der Prostitution, sondern auch im Menschen- und Waffenhandel. 

Zunächst erfolgt im Buch eine interessant zu lesende Geschichte der Zuhälterei von den „Loverboys“ der Antike bis in die Nachkriegsjahre. Die Entwicklung nach dem zweiten Weltkrieg in Deutschland und Österreich wird, gegliedert nach einzelnen Städten und markanten Zuhältern, beschrieben. Dabei geht der Autor stets auf die soziale und gesetzgeberische Situation als Voraussetzung bzw. Begünstigung bestimmter Entwicklungen ein, insbesondere während und nach den beiden Weltkriegen. Viele zitierte Einzelschicksale belegen anschaulich diese Darstellungen. Dem Titel des Buches entsprechend überwiegen dabei Erzählungen über Luden, „Sparer“, „Spritzer“, „Sonntagskellner“ (im Buch werden noch weit mehr Begriffe angeführt); deren teilweise genüssliche Ausführlichkeit erschließt sich erst am Ende des Buches im Vergleich mit den dort beschriebenen Clans und Familienbanden, und deren Umgangsformen.

Wichtig ist im Kapitel zu „Menschenhandel und Zuhälterei heute“ die Auseinandersetzung mit der immer wieder zu hörenden These von der „Freiwilligkeit“ und dem angeblich jederzeit möglichen Ausstieg. Die Gesetzgebung zum Thema in Deutschland, Österreich und der Schweiz wird im Anhang ausführlich zitiert und im Text hinsichtlich ihrer Konsequenzen erläutert – vor allem hinsichtlich der Frage, ob Prostitution ein Gewerbe (wie jedes andere) sei. Es erscheint geradezu makaber, wenn der Autor feststellen muss, dass in Deutschland manche „Gewerbetreibende“ und „Unternehmer“ in Coronazeiten als „Helden in der Krise“ gefeiert wurden, „weil sie den ihnen anvertrauten ´Prostituierten´ trotz Schließung der Bordelle Unterkunft gewährten“. Damit nicht genug: sie wurden „von Vater Staat für ihre bedauerlichen Verdienstausfälle entschädigt“ (S. 137).

Abschließend sei daher die Gleichstellungsministerin Schwedens zitiert: „Eine Gesellschaft, die Prostitution als Beruf oder Wirtschaftszweig anerkennt, ist eine zynische Gesellschaft, die den Kampf für die schutzlosesten und verwundbarsten Frauen und Kinder aufgegeben hat“ (S. 141 – im Text leider ohne Namen und Quelle, daher sei dies hier nachgeholt: Margareta Winberg in www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/155371/deutschland-schweden-unterschiedliche-ideologische-hintergruende-in-der-prostitutionsgesetzgebung/ 

– abgerufen 30.3.2022).


Marie Benedict. Mrs Agatha Christie 


Kiepenheuer & Witsch 2022, ISBN 978-3-462-00295-9, 315 S. 


Krimifans aufgepasst – hier kommt ein highlight des Jahres! Nach „Frau Einstein“ und „Lady Churchill“ beschäftigt sich die Autorin (sie hat Geschichte und Kunstgeschichte studiert) nun mit der Queen of Crime – genauer: mit ihrem elftägigen Verschwinden. Dies sei bis heute deren größtes Rätsel, das diese selbst in ihrer Autobiografie (Agatha Christie Meine gute alte Zeit. Eine Autobiografie, erschienen bei Scherz anlässlich ihres 100. Geburtstages) weder erwähnt noch löst. Andere Biografien (so z.B. Janet Morgan Agatha Christie. Das Leben einer Schriftstellerin – spannend wie einer ihrer Romane, Heyne Verlag) versuchen aus vorhandenen Puzzleteilen (Briefe, Polizeiprotokolle, Gesprächen mit Angehörigen) eine Erklärung zu finden – ohne diese letztendlich zuverlässig belegen zu können.

Marie Benedict geht anders vor. Sie bietet uns eine Geschichte ganz im Stil Agatha Christies – in Form eines Krimis, dessen Lösung erst auf den letzten Seiten erfolgt. Dank der exzellenten Übersetzung durch Marieke Heimburger liest sich das Buch wie von A. Christie selbst geschrieben – sowohl im Sprachstil wie im Aufbau der Handlung. Die Kapitel wechseln jeweils von der Zeit des Kennenlernens der Heldin mit ihrem ersten Mann zu einem Kapitel über die polizeiliche Untersuchung zu ihrem Verschwinden. 

Der Roman ist jedoch nicht nur ein spannender Krimi oder ein Zeugnis über die Lebensweise bestimmter Schichten im „old England“, sondern auch ein Beitrag zur Geschichte des Feminismus. Zeigt er doch, wie eine Frau sich durchsetzt und letztendlich ihre Befreiung aus ehelichen und gesellschaftlichen Fesseln ermöglicht.

Die Autorin hat sich ein für historische Biografien völlig neues Genere gewagt – den Kirminalroman – und es ist ihr gelungen: Spannung von der ersten bis zur letzten Seite, einfach Lesevergnügen pur!


Antje Schrupp,  Reproduktive Freiheit. Eine feministische Ethik der Fortpflanzung. 


Unrast Verlag Münster 2022, ISBN 978-3-8977-151-8, 86 S. 


In Band 11 der Reihe „geschlechterdschungel“ widmet sich die Politologin Antje Schrupp, einem Thema, das mindestens die Hälfte der Menschheit unmittelbar betrifft – der reproduktiven Freiheit als Menschenrecht. Durch den „aggressive(n) Anti-Abtreibungsaktivismus von rechtsextremer und populistischer Seite“ sei das Thema wieder verstärkt in die öffentliche Wahrnehmung gekommen (s. S. 7). Auch „Väterrechtler“ würden seit vielen Jahren daran arbeiten, „die Freiheit von Menschen, die Kinder gebären, zu untergraben“ (S. 8).

Zunächst klassifiziert sie den Beitrag Schwangerer als „gesellschaftliche Kulturarbeit“. Bewusst vermeidet sie die Einengung auf Frauen, denn entsprechend den neuen gesetzlichen Regelungen können auch Transmänner schwanger werden, da eine geschlechtsangleichende Operation nicht mehr Bedingung für die Änderung des sozialen Geschlechts ist. Ausführlich erläutert sie zunächst „Varianten der Natur“, um sich dann der Erfindung der Geschlechterdifferenz und der Entstehung des Patriachats zuzuwenden. Im Anschluss wird kurz die Geschichte des § 218 dargestellt, sowie die damit verbunden Folgen: unsachgemäße Versorgung von Schwangeren, da Abbrüche nicht mehr Gegenstand der Ausbildung seien; es immer weniger Einrichtungen gibt, die Abbrüche durchführen; aber auch mangelnde Einbeziehung von Schwangeren in Arzneimitteltest (und nicht zuletzt das lange Vorenthalten von Impfstoffen in der Corona-Pandemie). Ihre berechtigte Schlussfolgerung zu diesen Entwicklungen ist, dass es künftig nicht mehr darum gehen kann, die Legitimität von Abtreibungen zu begründen, sondern darum, „den Spieß umzudrehen und deutlich zu machen, warum es unmoralisch und unethisch ist, wenn Dritte oder die Gesellschaft per Gesetz und Strafandrohung über den Körper von Schwangeren entscheiden wollen“ (S. 45).

Weiterhin befasst sie sich mit modernen Reproduktionstechnologien – die gleichfalls nicht allen Personen uneingeschränkt zugänglich sind – viele nationale Gesetzgebungen würden Homosexuelle oder Alleinstehende ausschließen, in anderen Ländern erfolge der Ausschluss über die Kostenfrage. In diesem Zusammenhang verweist Schrupp darauf, dass die Entwicklung dieser Technologien schneller erfolgt sei, als die gesellschaftliche Debatte darüber. Dies habe u. a. zu Zielsetzungen bei Forschungen geführt, die kritisch hinterfragt werden müssten – z. B. wurden nicht Inkubatoren weiterentwickelt, sondern Gebärmuttertransplantationen (vgl. S. 59). Auch Leihmutterschaft und Eizell“spende“ (sie spricht von Verkauf – S. 81) sei in bestimmter Weise frauenverachtend und ausbeuterisch. Hier müssten viel stärker gesellschaftliche Debatten geführt werden – genau dazu liefert das Buch vielfältige Anregungen.


Katharina Volk (Hrsg.) Alexandra Kollontai oder: Revolution für das Leben. 


Karl Dietz Verlag Berlin 2022, ISBN 978-3-320-02393-5, 174 S. 


In der Reihe „Biografische Miniaturen“ des Berliner Karl-Dietz Verlages ist, gefördert durch die Rosa-Luxemburg-Stiftung, rechtzeitig zum 150. Geburtstag, ein Titel erschienen, der Leben und Werk der ersten Diplomatin und Ministerin der Welt würdigt. Die Herausgeberin Katharina Volk ist promovierte Politikwissenschaftlerin und arbeitet u.a. ehrenamtlich im Redaktionsbeirat der Zeitschrift "Wir Frauen - das feministische Blatt". 

Das vorgelegte Buch ist in 3 Teile gegliedert: biografische Erzählungen und Wertungen; Texte von und über Alexandra Kollontai und ein Anhang mit den biografischen Daten, einem Personenregister und einem Literaturverzeichnis zu Schriften von und über Alexandra Kollontai.

Sie gehörte mit Rosa Luxemburg und Clara Zetkin (deren Porträts ebenfalls in der genannten Reihe erschienen sind) zu den bedeutensten Revolutionärinnen des 20. Jahrhunderts – obwohl sie in beiden deutschen Staaten weniger gewürdigt wurde. Bekannt war sie bzw. ihre Schriften durchaus: in der DDR –erschien u.a. 1974 ihre Autobiografie „Ich habe viele Leben gelebt“ und 1984 eine Biografie von Sinowi Schenis. Beides stieß auf ein lese- und diskussionsfreudiges Publikum. Auch in der alten BRD wurde sie jedoch vor allem in den 70er Jahren rezipiert. 

Was macht also den Reiz aus, sich erneut/weiterhin mit dieser Frau, ihrem Leben und ihren Ansichten zu beschäftigen? Es sind m.E. sowohl ihre feministischen Erfahrungen in der Diplomatie (sie war Botschafterin in Schweden, Norwegen und Mexiko) und Politik (sie war Volkskommissarin für soziale Fürsorge und leitete die Zhenotdel, das weibliche Zentralkomitee in Lenins erster Regierung, das dafür sorgen sollte, die Arbeits- und Lebensbedingungen von Frauen zu verbessern) als auch ihre Ansichten zu Ehe, Familie, Partnerschaft und Mutterschutz, die nach wie vor aktuell sind. Insofern ist es anregend, ihre Ansichten nicht nur eingebettet in ihre Lebenserzählung zu lesen, sondern im 2. Teil des Buches die Texte im Original zu finden. 

Weiterhin hervorhebenswert ist, dass die Autorin Widersprüche im Leben A. Kollontais nicht verschweigt oder zu glätten versucht – so u.a. Kollontais Verhältnis zu Stalin.


Wir Frauen. Das feministische Blatt. 


Herausgegeben von WIR FRAUEN – Verein zur Förderung von Frauenpublizistik 


Bereits seit 1982 gibt es diese vierteljährlich erscheinende Zeitschrift, die für linken Feminismus steht und von Menschen zwischen 25 und 77 Jahren herausgeben wird, die aus der „alten“ und neuen“ Lesben- Queer- und Frauenbewegung kommen. Ihr gemeinsamer Slogan lautet „unabhängig – widerständig – solidarisch“. Unter www.wirfrauen.de ist auf der website zu lesen: „Seit 1982 stellt WIR FRAUEN dieselben Fragen: Wer profitiert von den Verhältnissen? Wer schafft die Verhältnisse? Wer zahlt den Preis? Wie leisten Frauen weltweit Widerstand? Wo und wie realisieren sie ihre Ideen und Lebensentwürfe, ihre Rechte auf Selbstbestimmung und Teilhabe? Wie können Arbeit und Einkommen, Kultur, Bildung und Gesundheit, Sorgearbeit, Einfluss und Verantwortung gerecht miteinander geteilt werden?“

Im 40. Jahrgang (2021) gibt es 2 Hefte, die sich mit Themen beschäftigen, denen sich auch wir HallenserInnen in der Vergangenheit zugewandt hatten: so hat Heft 3 den Schwerpunkt „Feministische Stadt“ – hier geht es um Themen wie: „Schlafplätze für alle“, „Grüne Flächen selber machen“ oder „Gleichstellungspolitik, die sich im Stadtbild niederschlägt“. Ich erinnere unsere Hallenser Initiativen zur besseren Beleuchtung bestimmter Straßen – angestoßen damals durch den Frauenpolitischen Runden Tisch in der Stadt Halle – der u.a. deshalb nicht aufgegeben werden sollte. 

Das Heft 4 hat den Schwerpunkt „Künstliche Intelligenz“, der mich unmittelbar an unsere letzten Frauenkulturtage zum Thema „Frauen und Digitalisierung“ erinnert hat. Hier sind es Überschriften wie „Was die Kybernetik vom Feminismus lernen kann…“ oder „My Body, My Data, My Choice“ die neugierig machen.

Immer enthalten ist eine Rubrik „Krieg & Frieden“, „Herstory“ und natürlich „Gehört/Gelesen“. Darüber hinaus werden im „Hexenfunk“ aktuelle Meldungen, Projekte, Jubiläen vorgestellt. Natürlich fehlen wie in jeder guten Zeitschrift auch die historischen Themen nicht – in Heft 3/2021 sind es die Frauenbilder in der neuen Ausstellung des Hauses der Geschichte in Bonn, Heft 4/2021 befasst sich mit Frauen im Design 1900. 

Heft 1/2021 hat den Schwerpunkt Europa – wieder sowohl historisch („Ausländische Frauen in der Pariser Kommune“), als auch mit Fragen „Wie weiblich ist die Macht in Europa? und „Wenn wir mal gedurft hätten“ (was – das müsst Ihr selbst lesen).

Ebenfalls thematisiert wird die in Halle nur zu gut bekannte Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Gruppierungen – hier am Beispiel des Lesbenfrühlingstreffens 2021.

Alles in allem – spannende vielseitige Lektüre – für Menschen aller Orientierungen.


Schwarze Feminismen/Black Feminismus: Femina Politica. 


Zeitschrift für feministische Politikwissenschaft 02/2021 30. Jahrgang


Der vorliegende Schwerpunkt ist für die Zeitschrift eine Premiere. Er knüpft an aktuelle politische Debatten wie Black Lives Matter, (Neo)-Kolonialismus von Grenz- und Migrationsräumen, strukturellen Rassismus im Gesundheitssektor, Klimaaktivismus und Digitalisierung u.a.m. an – heißt es im Editorial der Redaktion. Durch die Zweisprachigkeit des Heftes (deutsch und englisch) kommen zudem Autorinnen zu Wort, die sonst für das deutsche Publikum erst mühsam zu eruieren wären.

Von den Verfasserinnen des Eingangsbeitrages, Denise Bergold-Caldwell, Christine Löw, Vanessa Eileen Thompson werden zunächst methodologische Probleme erörtert: nicht nur, dass schwarze transnationale Feminismen häufig nicht zur Kenntnis genommen werden, arbeiten diese auch mit anderen Begriffen bzw. Herangehensweisen. So seien die Kategorien „gender“ und „Frau“ auf afrikanische Kontexte kaum oder gar nicht übertragbar. Dafür sind ihre Ansätze konsequent mit Debatten um Kolonialismus, Sexismus und Gewalt verbunden. Insbesondere Gender-Effekte bei zunehmend unsicheren Migrationswegen und des Lagersystems spielen eine wichtige Rolle in den Auseinandersetzungen. Schwarze Geflüchtete seien überproportional zu Geflüchteten anderer Communities Gewalt und Feindseligkeiten ausgesetzt und benachteiligt – z.B. bei der Übermittlung wichtiger Informationen.

Am spannendsten für mich war der Beitrag von Jamila A. Adamugu „Die Orte, an denen wir heilen. Für schwarze Communities of Practice, Dialogue and Care“. Da es bislang offiziell keine formellen (Selbsthilfe-)Gruppen von und für Schwarze Frauen und LGTBIQ in Deutschland gibt, habe sie sich auf ganz persönliche Kraftquellen fokussiert. Ein Teil des Artikels entspringt daher persönlichen Erfahrungen. Schwarze Frauen mit Brustkrebs seien in Deutschland weitgehend unsichtbar – entsprechend fehlen sie auch in Studien – und damit im Konzept möglicher Behandlungsalternativen.

Ebenfalls sehr anregend ist die Frage von Sheena Anderson, „was der Klimawandel mit Black Lives Matter zu tun“ (habe) – S. 64. Klimagerechtigkeit bedeutet für sie den umfassenden Abbau sexistischer, rassistischer, sozialer, ökonomischer, ökologischer und gesundheitlicher Ungerechtigkeit (vgl. S. 69).

Schwarzfeministische Perspektiven auf Künstliche Intelligenz (von Laura Schelenz) sind ebenso Thema des Heftes wie „Wut, die erzählt“ und als Wissensquelle genutzt werden kann(von Leslie Karina Debus) wie eine generelle Analyse des Anstiegs von Antifeminismus in Deutschland (Carla A. Ostermeyer).

Weiterhin enthält das Heft eine Analyse des 3. Gleichstellungsberichts der Bundesregierung zum Aspekt Digitalisierung, zur geschlechterblinden Verwendung von EU-Corona-Geldern, zur dramatischen Zuspitzung von Femiziden in Mexiko im Rahmen des Drogenkrieges (Frauen seien hier oft „Kollateralschäden“ – s. S. 185), Berichten aus Lehre und Forschung, sowie Rezensionen und natürlich den call for papers zum nächsten Heft zum Thema „Geschlecht – Gewalt – Global“, das sicher schon im Druck ist und nicht verpasst werden sollte!


Evke Rulffes Die Erfindung der Hausfrau. Geschichte einer Entwertung. 


Verlagsgruppe Harper Collins Hamburg 2021, ISBN 978-3-7499-0240-8, 287 S.


Das Buch, so die Autorin, sei ein „Plädoyer für mehr Wertschätzung und Anerkennung von Haus- und Care-Arbeit, für die angemessene Bezahlung…“ und  soll zum Nachdenken über Erwartungen an heutige Mütter und die fehlende Solidarität unter Frauen anregen (S. 258f). 

Dazu geht die Kulturwissenschaftlerin (weiterhin studierte E. Rulffes Kunstgeschichte und niederländische Philologie) der Frage nach, „woher der gesellschaftliche Anspruch an die Perfektion der Mutter kommt und wie er mit dem Modell der Hausfrau zusammenhängt“ (S. 8). Sie begründet die Veränderung des Frauen- und Mutterbildes Ende des 18. Jahrhunderts mit einer umfangreichen Textanalyse von Ratgeberliteratur (so der heutige Terminus) – damals „Hausväterliteratur“ bzw. „Hausmutter“ – Lexika und einschlägiger Werke der Aufklärer (u.a. von Rousseau). 

Dabei zeigt sie nicht nur die Wandlungen dieses Begriffes auf: Hausmutter sei zunächst ein Herrschaftsbegriff und Beruf gewesen: die Frau war Managerin nicht nur eines mehr oder weniger großen Haushalts mit Gesinde, teilweise im Handwerk des Mannes eingebunden, vertretungsberechtigt in dessen Abwesenheit, Geldteintreiberin bei säumigen Zahlern etc. Allerdings, so betont die Autorin, hätten die durchweg positiven Schilderungen dieses Bildes und der Möglichkeiten von Frauen vor allem in den 5 Bänden des Friedrich Christian Germershausen („Die Hausmutter in allen ihren Geschäften“) nicht in jedem Fall der Realität entsprochen. 

Unabhängig vom im Text enthaltenen sozialpolitischen Bild der Frau zitiert E. Rulffes viele Details, die uns heute eher amüsieren, denn zur Nachahmung anregen – so dass die Butter auf dem Herrschaftstisch in großen und länglichen Stücken auf den Tisch kommen soll, auf keinen Fall zu weich oder in einer Butterbüchse (s. S. 125f); dass Stricken als Zeichen von Sittlichkeit galt u.ä. 

Vorstellungen vom Status der Frauen verändern sich mit den sozialen Veränderungen, vor allem durch die Entstehung eines gestuften Beamtentums. Für dieses galt auf den jahrelangen unteren Rängen „mehr Schein als Sein“, d.h. viele Tätigkeiten für die es früher Gesinde/Angestellte gab, wurden in Ermangelung entsprechender Finanzen auf die Hausfrau übertragen – allerdings unsichtbar. Gerade bei Gastessen für Vorgesetzte durften diese nichts davon bemerken. So gibt es hier den für uns heute sicher skurrilen Tipp, dass bei nicht ausreichendem Besteck für alle Gänge dieses nach dem Abspülen zwischendurch zunächst in kaltes Wasser zu legen sei, damit die Gäste nicht merken, dass sie das gleiche Besteck erneut vorgelegt bekämen (S. 231). 

Entsprechend wandeln sich nicht nur die Ratgeber (die Hausfrau soll im Hause für Ruhe und Frieden, die Erholung des Mannes sorgen, d.h. anfallende Hausarbeiten müssen erledigt sein, wenn dieser „sein Heim“ betritt, eventuellen Kummer darf sie nicht zeigen), sondern zunehmend gehen Entscheidungsbefugnisse auf diesen über. Bekannt sind uns heute Regelungen aus der Ex-BRD zur Berufstätigkeit oder Kontoführung bis in die 70er Jahre allein durch den Mann – im Buch angeführt wird auch, dass der Mann selbst über die Dauer des Stillens entscheiden konnte (S. 176). Die „Stilldebatte“ bzw. der Mythos um das Stillen und dessen Ablehnung (Frauen würden dadurch angeblich nur eine weitere Schwangerschaft hinauszögern wollen) werden ausführlich beschrieben.

Die veränderte Stellung der Frau zeige sich auch in der Wohnstruktur: „Essen fand repräsentativen Salon statt, der ausschließlich für solche Gelegenheiten (Gästebewirtung – V.SL) genutzt wurde, während die eigentlichen Wohnräume kleiner waren. Am kleinsten häufig die Küche – unabhängig von der Vielzahl der Arbeiten, die dort neben der Essenszubereitung durchgeführt wurden – Holz hacken, Abwaschen, Wäsche waschen und bügeln, baden…

Mit der oben beschriebenen, zunehmend geforderten Unsichtbarkeit der Hausarbeit ging deren Entwertung einher. Gleichzeitig wurde der Mythos entwickelt, dass Ehefrauen und Mütter, die diese Arbeit nicht heiter und zufrieden ausführen würden, ihre Familie offensichtlich nicht genug lieben (S. 238). Und zur Liebe gehöre auch, dem Ehemann jederzeit nach dessen Lust und Laune zur Verfügung zu stehen (Anzeichen von Unlust waren ein Scheidungsgrund). In diesem Zusammenhang darf nicht unerwähnt bleiben, dass u.a. Volker Kauder, Horst Seehofer und Friedrich Merz 1997 gegen das vom Bundestag verabschiedete Gesetz über Vergewaltigung in der Ehe gestimmt haben (S. 241f).

Das vorliegende Buch ist sowohl ein Stück Begriffs- vor allem aber Sozialgeschichte. Spannend im Detail, erschütternd in seinen historischen Fakten, die teilweise bis heute nachwirken.


Luise F. Pusch & Sookee Feminismus und Sprache. Ein Gespräch 


Querverlag Berlin 2021, ISBN 978-3-89656-303-3, 60 S.


Ein kleines Bändchen, das es in sich hat – zielt es doch mitten hinein in die derzeitigen Debatten, wie wir reden und schreiben sollen/dürfen/müssen. Die taz-Redakteurin Patricia Hecht moderierte im Rahmen der feministischen Sommeruniversität 2018 ein Gespräch zwischen der Sprachwissenschaftlerin Luise F. Pusch und der Rapperin und antifaschistischen Queer-Fem-Aktivistin Sookee. Da dies noch eine Zeit ohne Coroana war gab es auch live-Publikum, dessen Fragen und die entsprechenden Antworten ebenfalls in den Band aufgenommen wurden.

Die aufgeführten Repliken reichen weit über bloße Sprachanalyse hinaus – sie dokumentieren jeweils auch Lebenswege der beiden Protagonistinnen, ihre steinigen Wege zum Thema, Kuriositäten in diesen Zeiten, Erfolge und Hindernisse.

Seitens der angesprochenen Sprachuntersuchung geht es um Für und Wider von Binnen-I, Gendersternchen, Unterstrich, Knacklaut etc. – ohne abschließende Vorschriften für immer und alle. Dabei sind sowohl die jeweiligen Analysen lesenswert als auch einzelne Bonmots wie „Es ist lästig, die Männer immer mitzuerwähnen“ (Luise F. Pusch, S. 9) – herrlich – diesen Satz werde ich unbedingt bei meinem nächsten Vortrag anführen“. Sookee argumentiert hier übrigens mit der Ökonomie der Zeit (S. 16).

Der Check unserer aktuellen Sprache dreht sich nicht nur um weibliche und männliche Form (fast hätte ich jetzt doch aus alter Gewohnheit die männliche Form zuerst genannt), sondern auch um einzelne Wörter wie „Fräulein“ in den 60er Jahren, aber auch „Mädchen“ oder „Mädels“ für Politikerinnen oder Aktivistinnen. Beide Gesprächspartnerinnen geben Tipps, wie sie in bestimmten Situationen damit mit diesen Bezeichnungen und weiteren Aggressionen umgehen.

Das kleine Heft veranschaulicht gerade durch die gewählte Form des Gesprächs sowohl die Entstehung der feministischen Sprache als auch ein Stück weit die Entwicklung emanzipatorischer Strategien. Es ist der erste Band einer Reihe „in*sight/out*write“, die fortgesetzt wird mit Themen wie „Schminken mit Technow. Die Politik von Drag“, „Sehnsucht nach Subversion. Ein Weckruf“, „Die Lederszene – Ein Ort der Sehnsucht“, „Quere Familien – Eine utopische Betrachtung“. Alles Titel die neugierig machen und zum Weiterlesen anregen.


Annemieke Hendriks Zweites Grab, halber Preis. Eine Geschichte vom Leben und Sterben. 


Eulenspiegel Verlag Berlin, 2021, ISBN 978-3-359-03015-7, 175 S.


In witzig- ironischer Form vergleicht die Autorin Bestattungskulturen und Vorschriften von Deutschland und den Niederlanden. Die freie Journalistien und Buchautorin Annemieke Hendriks ist in Den Haag geboren und lebt seit Jahren in Berlin, wo sie auch ihren Mann bestattet hat. Durch die Organisation der Bestattung und darauf folgende Begegnungen auf dem Friedhof, – mit Menschen und Vorschriften, wird sie auf größere und kleiner Unterschiede in beiden Ländern aufmerksam und hinterfragt diese auf heiter-ironische Art. Die LeserI:iIn muss nicht AnhängerI:iIn der Sepulkralkultur sein, um dies Buch daraus folgende Niederschrift zu mögen. Es ist das Menschliche in ihren Beschreibungen von Begegnungen, – mit dem Friedhofsgärtner, anderen Besuchern und Verwaltungs¬angestellten, – das fasziniert.

Sie gliedert ihr Buch entsprechend der Jahreszeiten und geht daher zunächst vielfach auf die entsprechende Grabpflege ein, bzw. auf Vorschriften dazu, was gepflanzt oder nicht gepflanzt werden darf (kein Gemüse – in Kriegszeiten dann dann aber doch!). Aber auch dDas Laub müsse muss durch den Gärtner auf Anforderung vieler Hinterbliebener in Deutschland immer wieder geharkt werden, obwohl gerade das bunte Herbstlaub doch die Gräber so schön zudeckte.

Bevor jedoch eine Bestattung stattfinden kann sind Behördengänge zu erledigen – dazu muss man jedoch Angehöriger sein: Partner, Geliebte:r, intime Freunde zählen nicht. Und es lauern gerade in Deutschland vor und nach dem Sterben jede Menge weiterer Vorschriften. – hHier vergleicht sie sowohl den Umgang mit „Euthanasie“ in Deutschland und den Niederlanden, als auch Entscheidungen über Art und Ort der Beisetzung. Ihr Credo „die Deutschen müssen offensichtlich auch 75 Jahre nach dem Ende des 2. Weltkrieges noch vor sich selbst geschützt werden“ (vgl. S. 40). Hier geht es dann auch um (nicht) erzählte Wahrheiten aus dem Familienleben und natürlich um das leidige Thema des Erbens.

Herrlich erfrischend lesen sich ihre Überlegungen dazu, was man auf dem Friedhof darf – Radfahren nicht (auch nicht mit schweren 

Gießkannen am Rad). Lachen schon, aber nicht so laut, nackt Sonnenbaden nicht, picknicken am Grab schon schon … Sie geht auf viele Vorschriften ein, deren Logik und Wert für den heutigen Alltag schlicht nicht mehr nachzuvollziehen sind. Insofern ist das Buch auch eine Zeitreise durch Jahrhunderte – immer wieder verblüffend, irritierend und anregend.


Ellen Händler Uta Mitsching-Viertel Problem ZONE Ostmann? Lebenserfahrungen in zwei Systemen.


 ibidem Verlag Stuttgart, 2021, ISBN 978-3-593-8382-1540-2 330 S.


Die Autorinnen sind im Osten geboren und verfügen wie ihre Interviewpartner über Lebenserfahrungen mit zwei gesellschaftlichen Systemen. Ute Mitsching-Viertel ist promovierte Politiologin, Ellen Händler promovierte Soziologin. Beide befinden sich inzwischen im sog. „Unruhestand“, den sie bereits für eine Vielzahl von Interviews mit Ostfrauen nutzten und 2019, mit dem Band „Unerhörte Ostfrauen: Lebensspuren in zwei Systemen im gleichen Verlag vorstellen. Sowohl bei den Lesungen als auch durch Zuschriften kam der Wunsch auf, etwas ähnliches für Ostmänner zu erhalten und trotz Corona ist dieses Unterfangen gelungen. 

Befragt wurden rund 40 Männer verschiedenster Generationen, „Ausgereiste“ und „Hiergebliebene“, Anhänger und Gegner der  AfD bzw. von Pegida – kurz Männer mit sehr unterschiedlichen Lebenserfahrungen, Werten und Ansichten. Viele von ihnen haben diverse Erfahrungen mit Westmännern als Kollegen und Chefs gemacht und geben diese mit deutlichen Worten zu Protokoll bzw. stellen von sich aus Vergleiche zwischen Ost- und Westmännern an.

Neben den Interviews enthält das Buch ein Geleitwort des Ministerpräsidenten des Landes Brandenburg Matthias Platzeck (der trotz Anonymisierung im Interview unschwer zu erkennen ist), „ostmännliche Positionen zu Schwangerschaftsabbruch und Vaterschaftstest“, eine kurze Analyse des Ost-West-Genderdiskurses durch Sylka Scholz (Prof. für Soziologie) und ein Glossar zu DDR-Begriffen, das sicher für jünger oder westdeutsche LeserInnen hilfreich ist.

Die jeweils einer Reihe von Biografien vorangestellten Texte machen die Unterschiede zwischen Ost- und Westmännern prägnant deutlich:

- „Der Ostmann ist durch 40 Jahre DDR geprägt, sein Erfahrungsvorsprung aus beiden deutschen Systemen macht ihn nachhaltig“ (S. 10)

- „Die Arbeit ist für den Ostmann Sinn des Lebens, ein kulturelles Gut und nicht nur Mittel zum Geldverdienen. Der Betrieb war für ihn Lebensmittelpunkt. Aufgrund der Mangelwirtschaft lernte er gut zu improvisieren. Der Verlust von Arbeit führte zu Brüchen männlicher Identitäten“ (S. 72).

- „Für den Ostmann ist Familie selbstverständlich. Obwohl er Gleichberechtigung anerkennt, ist der Familienalltag im Wesentlichen weiterhin klassisch patriarchalisch geprägt“ (S. 114)

- „Die Erinnerung an die Armeezeit spaltet die Ostmänner. Für einen Teil war sie verbunden mit beruflicher Entwicklung, für einen anderen mit Demütigungen“ (S. 232).

Thematisiert werden auch die zahlreichen Scheidungen, trotzdem bleibt bei allen das Credo eines partnerschaftlichen Verhältnisses, bzw. eines „Zusammenlebens auf Augenhöhe“. Immer wieder taucht mit unterschiedlichen Worten die Sequenz auf, dass es doch nicht sein könne, dass „andre einem erzählen, wie man gelebt hat“ – an westdeutsche AdressatInnen gerichtet. Insofern ist dieses Buch ein wichtiges Zeitdokument, dem eine breite Leserschaft vor allem in den alten Bundesländern zu wünschen ist. Dies ist schon deshalb wichtig, weil der „medial-öffentliche Diskurs über die neuen, engagierten oder involvierten Väter … „, so Sylka Scholz in ihrer Analyse, „ein Diskurs über westdeutsche Väter in der bürgerlichen Mittelschicht ist. Ostdeutsche Vaterschaft hingegen ist eine diskursive Leerstelle und wird medial systematisch übersehen“ (S. 316).


Thomas Böhm (Hrsg.) Da war ich eigentlich noch nie. Die Wunderkammer des Reisens in Deutschland. 


Verlag das kulturelle Gedächtnis, Berlin, 2021, ISBN 978-3-946990-50-5, 

320 S.


„Wunderkammer“ ist genau das richtige Stichwort für die wunderschönen Texte, Grafiken und Bilder im vorliegenden Buch. Es weckt sowohl Kindheitserinnerungen, regt zu neuen Reisezielen an und erzählt spannende, kuriose und historische Details aus der Entwicklung des Reisens in Deutschland. Geordnet sind diese Fundstücke nicht systematisch, wie es im Vorwort heißt, sondern nach dem Prinzip der „Wunderkammer“ – d.h. die Leserschaft erlebt immer wieder ungeahnte Überraschungen. 

Klagen der Reisenden aus dem 19. Jahrhundert z.B. über Fahrten mit der Postkutsche muten diese sehr modern an – schlechte Straßenverhältnisse, aufdringliche Reisebekanntschaften, Unfälle, 

Unpünktlichkeit (wer denkt bei letzterem nicht spontan an die deutsche Bahn?). Oder auch die Klagen der Hoteliers gegen diebische Gäste und ihre Versuche dieser „Souvenirmitnahmementalität“ Einhalt zu gebieten (S. 90ff).

Aber genug des Klagens – das Buch gibt auch exzellente Empfehlungen für Besuche und Reisen – sortiert nach Bundesländern oder Genre (Museen, Freizeitparks, Feste, Biergärten, Golfplätze, UNESCO-Welterbestätten – nicht zu vergessen: Bücherdörfer).

Nicht fehlen dürfen natürlich auch Betrachtungen zu Kurreisen mit einer ausführlichen Erläuterung des Begriffs „Kurschatten“ – der es seinerzeit sogar in das medizinische Wörterbuch Pschyrembel geschafft hatte (S. 82ff).

An Reisen mit Kindern und Geschichten für sie während langer Reisen wurde ebenso gedacht wie an das Thema Umweltschutz und Tourismus. Dieses spielte bereits im 19. Jahrhundert eine Rolle.

Kurz: das Buch ist ein „must have“ für alle die gern Reisen und alle die aus verschiedensten Gründen gerade Daheim bleiben müssen.


Carina Landgraf: Vergessener Glanz. Lost Places in Europa 


Mitteldeutscher Verlag GmbH, Halle (Saale) 2021, ISBN 978-3-96311-176-1, 239 Seiten

 

Der Ausdruck Lost Places wird für Bauwerke der jüngeren Geschichte verwendet, die entweder noch nicht historisch erfasst worden sind oder aufgrund ihrer geringen Bedeutung kein allgemeines Interesse finden. Meist handelt es sich um Ruinen aus der Industrie- oder Militärgeschichte. Die Faszination dieser Orte, die inzwischen viele Menschen zu TV-Dokumentationen, Sachbüchern und Fotobänden inspiriert hat, liegt häufig genau in dieser fehlenden touristischen Erschließung, die Besuchern die Möglichkeit gibt, selbst auf Entdeckungsreise zu gehen.

Anders hier: die Fotografin Carina Landgraf hat einen Bildband von historisch bedeutsamen Orten geschaffen, die aus unterschiedlichsten Gründen nicht erhalten oder gar restauriert werden konnten. Ihre Aufnahmen lassen diese als verwunschene Plätze erscheinen, die noch heute faszinieren – zum einen durch ihre Geschichte, zum anderen durch die zu erkennende Rückeroberung der Orte durch die Natur. Allen Landschaften, Gebäuden, Räumen bzw. fotografierten Details ist ein Text zu ihrer Geschichte vorangestellt, denn – so die Autorin – „diese spannenden Objekte bergen noch immer die Hinterlassenschaft früherer Generationen und geben gleichzeitig ungeahnte Einblicke in die Historie und Kultur ihres jeweiligen Standortes“ (S. 8). Da ist z. B. ein Wirtshaus in Deutschland, wo ehemals Sommernachtsbälle, Tanz in den Mai, Kirmes oder Herbstfeste stattfanden, das vorgestellt wird, sowie ein altes Friedhofsgelände. In Belgien erwartet die Leser ein Autofriedhof und eine Schule; in Italien ein alter Palast und eine psychiatrische Einrichtung. Aus Österreich bietet sie Industriearchitektur des frühen 20. Jahrhunderts und ein berühmtes Bankhaus. Spuren des kalten Krieges in Ungarn finden ebenso ihren Platz wie ehemals prachtvolle Bauten in Polen, Tschechien und Luxemburg. 

Die Bilder sind schwer zu beschreiben – frau/man muss sie einfach gesehen haben. Geben sie doch sowohl in ihren Gesamtansichten als auch an Hand zahlreicher liebevoll abgebildeter Details eine nach wie vor beeindruckende Welt wieder, in die man/frau einfach hineinspazieren möchte – einige Aufnahmen erwecken auch den Eindruck, als wäre dies ohne weiteres noch möglich. Das Betreten solcher Orte ist selten rechtlich eindeutig geregelt, manchmal werden auch die damit verbunden Gefahren unterschätzt – insofern recht herzlichen Dank an C. Landgraf für diese Zeitreise in Wort und Bild!


Gine Elsner, Augustes Töchter: Auf den Spuren engagierter Frauen. 


VSA Verlag Hamburg, 2021, ISBN 978-3-89965-040, 461 Seiten

 

Die Autorin Gine Elsner schreibt Familiengeschichte – beginnend mit ihrer Ur-Ur-Großmutter Erdmuthe bis hin zu Ilse Elsner (ihrer Mutter und MdB), vor allem anhand überlieferter Briefe. Es ist jedoch nicht nur ein biografischer Text, sondern vor allem eine beeindruckende Beschreibung des Lebens sogenannter „einfacher Menschen“ über Jahrhunderte, und der jeweils herrschenden Sitten und Gesetze. Es handelt vom schweren Leben von Frauen in diesen Zeiten, ihrer systematischen Unterdrückung und Missachtung – und dem Aufbegehren dagegen. Es ist nicht nur ein Stück Geschichte der deutschen Frauenbewegung, sondern Deutschlands insgesamt. Durch die umfangreiche Recherche der Autorin wird auf die Weltkriege und deren Auswirkungen auf das Alltagsleben ebenso eingegangen, wie z. B. auf die jeweilige Bildungspolitik (insbesondere die Reformbewegung und die Gründung erster weltlicher Schulen); es werden Liedtexte und andere Kunstformen rezipiert (z. B. Tagebücher Erich Kästners); der Kampf der Frauen um sichere Verhütungsmittel sowie Möglichkeiten zum Schwangerschaftsabbruch, um das Frauenwahlrecht, etc. Somit ist es nicht nur Familiengeschichte, sondern vor allem ein zeitgeschichtliches Panorama – beginnend 1883 mit den ältesten erhaltenen Briefen, bis in unsere Zeit hinein. Der letzte Passus lautet: „Die Parlamentarierinnen fordern die Hälfte der Abgeordnetenmandate für Frauen. Dazu gibt es noch immer Bedenken. Wen wundert‘s“ (S. 430).

Manche Fakten zur Vergangenheit der alten BRD würden vor allem DDR-sozialisierte Frauen sicher eher in den Beginn dieser Darstellung einordnen, als in die 70er Jahre – so z. B. die Novellierung des Nichtehelichen-Rechts erst 1969 (bis dahin konnte die Mutter nur bei „guter Führung“ die elterliche Gewalt ausüben); eine völlige Gleichstellung außerhalb der Ehe geborener Kinder mit ehelichen, war damit immer noch nicht erreicht – u. a. im Erbrecht.

Die vielfältigen detaillierten Untersuchungen werden durch zahlreiche Abbildungen illustriert – so der Geburtenrückgang von 1875 bis heute (S. 63). Er war damals nicht im Sinne der Sozialdemokratie, wegen fehlender „Revolutionäre“ (Clara Zetkin), und ist es heute nicht bei der AfD, wegen „aussterbender deutscher Bevölkerung“. Gesundheitspolitik spielt insgesamt eine große Rolle in diesem Buch – u. a. gibt es einen Appendix zum Gesundheitswesen in Berlin-Neukölln (S. 87). Genauso spannend liest sich die Entwicklung des Universitätsstudiums für Frauen am Beispiel Hamburgs (S. 142), bzw. zur Promotion von Ilse Elsner. Gleichfalls analysiert wird das Wahlverhalten von Frauen seit 1919 (S. 75 ff), denn damals wie heute ist es nicht wie häufig angenommen so, dass Frauen bevorzugt ihre Geschlechtsgenossinnen wählen. 

Die politischen Untersuchungen gehen weit über Deutschland hinaus – in den Darlegungen zum 2. Weltkrieg wird u. a. auf Norwegen und die Kollaboration von Norwegern mit Deutschen in Norwegen eingegangen (Ausgangspunkt für diese Recherche war der Einsatz von Alfred Elsner, einem der stets mit beschriebenen Ehemännern der Elsner-Frauen).


Fazit: Das Buch beschreibt ein Stück Zeitgeschichte, deren Wirkungen bis heute spürbar sind, und fasziniert durch seine Mischung von persönlicher Geschichte und „harten Fakten“.


Torsten Körner:  In der Männerrepublik. Wie Frauen die Politik eroberten.


Kiepenheuer & Witsch Köln, 2020 ISBN 978-3-05333-3, 362 Seiten 


Das Buch ist eine packende Darstellung des steinigen politischen Wirkens von Frauen in der BRD, ihrer Biografien und der Geschichte des Bundestages. Die Lektüre ist ungeheuer spannend – zugleich macht sie wütend, wenn z.B. über solche Details berichtet wird, wie das Wetten einiger alter Herren im Bundestag, ob eine bestimmte Abgeordnete einen BH trägt und dies auch noch handgreiflich coram publicum geprüft wird (S. 137).

Der Autor, Fernsehkritiker, Journalist und Dokumentarfilmer Torsten Körner, hat akribisch nicht nur die Lebenswege von Frauen in den deutschen Bundestag hinein nachgezeichnet, sondern zitiert und analysiert auch die von ihnen angestoßenen Debatten, sowie die damit verbundenen Schwierigkeiten und Beleidigungen durch die eigenen und fremden Fraktionskollegen. Schon im Vorwort beschreibt er den Umgang mit ihnen und zeigt im weiteren an Hand zahlreicher Beispiele aus allen Fraktionen deutlich, dass es keine einmaligen Entgleisungen waren, sondern systematisches Mobbing und der Versuch, bestimmte Themen gar nicht erst zuzulassen . Er schätzt ein: „Frau soll zum Schweigen gebracht werden. Die Frau soll nicht sagen dürfen, was sie zu sagen hat. Wenn Frau im Parlament spricht, soll sie sprechen, wie Männer sprechen. Sie soll nicht als Frau auffallen, sie soll sich einordnen, sie soll sprechend schweigen. Kein Wort soll fallen von Diskriminierung, Gewalt oder gar Vergewaltigung in der Ehe oder fehlender Chancengleichheit“ (S. 8).

Torsten Körner holt auch die 4 Mütter des Grundgesetzes wieder aus der historischen Versenkung. Diese wurden lange Zeit als nicht erinnerungswürdig angesehen. „Schließlich waren es ja Jahrzehnte überwiegend die Männer, die auf das Schreiben der politischen Artikel, Geschichten, Essays, Lexika und Kommentare spezialisiert waren, es waren Männer, die politische Dokumentationen oder Features machten…“(S. 31). Dies zeige sich bis heute z.B. darin, dass nur sehr kleine Straßen nach ihnen benannt wurden. „Das Zipfelchen Straße, das Bonn Elisabeth Schwarzhaupt in Ückersdorf gönnt, ist kläglich, gemessen an ihrer historischen Bedeutung. Die erste Bundesministerin der Republik wird durch die Benennung ebenso marginalisiert, wie Adenauer sie einst marginalisieren wollte, als der Kanzler sie im Kabinett stets nur mit `Fräulein` anredete… Und auch Helene Wessel und Frieda Nadigs, zwei der vier Mütter des Grundgesetzes, wirken hier, vor den Toren der Stadt, verloren, ihre Namen zerfallen zu einsamen Buchstaben, die sich weder mit der Landschaft, den Häusern noch den Menschen in ihnen verbinden. Wer so Erinnerung stiften will, betreibt stattdessen Entsorgung“ (S. 264-265).

Diese „Entsorgung“ hat, wie der Autor vielfach nachweist, Methode –dem Autor gebührt großer Dank dafür, dass er sich dem entgegenstellt hat und die deutsche Geschichtsschreibung um ein spannendes Kapitel bereichert hat!

Und es bleibt das Resümee: Frauen haben sich nie einschüchtern lassen, ihre Themen und ihre Sprache einzubringen und natürlich ihre Anliegen – z.B. die Verhüllung des Bundestages. Auch wenn sich heute Männer mit dieser gelungenen Aktion schmücken, so war es Rita Süssmuth, die dies ermöglicht hat (S. 267ff) – was (wen wundert`s)  heute in den Berichten zu dieser Aktion kaum


Sabine Friedrich      Was sich lohnt. 


dtv Verlag München, 2021, ISBN 978-3-423-28257-4, 414 Seiten 


Das vorliegende Buch ist der zweite Teil einer Romantriologie über den deutschen Widerstand gegen den Nationalsozialismus – genauer: den Widerstand vorwiegend aus Adels- und bürgerlichen Kreisen. Der erste Band („Einige aber doch“) beschäftigt sich mit der „roten Kapelle“ – einer Gruppe von ca. 150 Personen, von denen die meisten einen ethisch motivierten Sozialismus anstrebten. Am bekanntesten sind die Namen Harro Schulze-Boysen und Adolf Harnack.

Der hier vorliegende zweite widmet sich dem „Kreisauer Kreis“ (benannt nach dem niederschlesischem Gut Kreis des Helmut James Graf von Moktke. Neben ihm sind es Männer wie Peter Yorck Graf von Wartenburg oder auch Adolf Reichwein, die eine Rolle spielen, bzw. deren Frauen – so vielfach die Ankündigungen zu diesem Band. Leider erfahren die Lesenden jedoch häufig nur, dass die Frauen durch ihre Anwesenheit den Zusammenkünften den Anschein privater Treffen verleihen. Kurz werden Dinge angeführt, wie der Transport von geheimen Unterlagen durch Freya von Moltke und Marion Yorck von Wartenburg oder der Versuch Clarita von Trott zu Solz, gefährliche Papiere bei Eintreffen der Gestapo noch schnell verbrennen zu können. Am ausführlichsten wird noch der Kampf Annedore Lebers um die Befreiung ihres Mannes aus der Haft dargestellt. Ansonsten geht es um Leidenschaft – zum Mann – den Kindern oder dem Gut. Eigene Ideen und Pläne für ein anderes Deutschland scheinen die Frauen nicht gehabt zu haben, wenn überhaupt in den Zitaten bzw. Briefen Überlegungen dazu auftauchen, so sind diese Unterstützungserklärungen für das Anliegen der Männer. Schade, hier hatte ich mehr erwartet. Das wird jedoch weniger an der Autorin liegen, sondern an der vorhandenen Überlieferung von Dokumenten und Gesprächen – die in der Vergangenheit eben männlich fokussiert war.

Der Roman beginnt 1912 mit der Kindheit einiger Protagonisten (wieder überwiegend nur der männlichen). In großen Zeitsprüngen geht er dann fort bis zum Ende der 20er Jahre, ab hier wird es detaillierter. Die Erzählweise ist etwas ungewöhnlich, es werden nicht 

Lebensläufe als Handlungsstränge erzählt, sondern Ort- und Zeitsprünge zu anderen Personen gemacht. Eine beigefügte Orientierung am Ende des Buches erleichtert allerdings das Zurechtfinden zwischen Familienbanden, Gruppierungen und Ortschaften. 

In den Gesprächen geht es nicht nur um (letztendlich nicht genutzte) Möglichkeiten zu Veränderungen in Deutschland, sondern in Europa. Teilweise geht es allerdings nur um die Beseitigung Hitlers, ohne dass eine klare Nachkriegsordnung erkennbar wäre. Vieles erscheint uns Heutigen auch von vornherein unrealistisch bzw. wenig sinnvoll – allerdings kennen wir LeserInnen ja den Ausgang der Geschichte. 

Am spannendsten für mich war die Entwicklung Dr. Harald Poelchaus, Gefängnispfarrer in den Strafanstalten Tegel und Plötzensee, der die zum Tode Verurteilten in ihren letzten Stunden begleitet hat (teilweise auch gegen den Willen ihrer Richter).

Die an der Ideenwelt dieser Kreise interessierte Leserschaft darf auf den 3. Band („Was sich lohnt“) und das Eintauchen in eine andere Gedankenwelt gespannt sein.


 Dr. Eckhart von Hirschhausen

Mensch, Erde! wir könnten es so schön haben



dtv Verlagsgesellschaft mbH und Co. KG, München 2021, ISBN 978-3-423-28276-5, 529 S.


„Wenn Bäume weglaufen könnten, wären sie dann noch hier?“ (S. 205) lautet eine der vielen ungewöhnlichen Fragen, denen der Autor in 12 Kapiteln nachgeht. Er versteht dieses Buch als Reisebericht, nicht als Endergebnis (S. 18), deshalb finde frau/man hier „eine wilde Mischung aus Sachinformation und Geschichten, Politisches und Poetisches“ (S. 13) – natürlich nachhaltig hergestellt, d.h. kein Schutzumschlag, keine Einschweißfolie, kein Mineralöl in den Farben – oder wie der Autor treffend zusammenfasst „kein Scheiß“ (S. 526). Er will uns schließlich anregen, über scheinbar Alltägliches nachzudenken und zu entscheiden – im Sinne „das kann dann mal weg“, um so als Einzelne/r einen Beitrag zum Erhalt unserer Heimat Erde, von der wir nur eine haben (und auch keine heimliche Reserve irgendwo da draußen) zu leisten. Auch wenn Deutschland als kleines Land nur 2% der weltweiten Emissionen einsparen würde und dies scheinbar nicht viel bringt – was wäre von 50 kleine Länder jeweils 2% einsparen würden? so lautet eine weitere der vielen Fragen.

Eckart von Hirschhausen stellt jedoch nicht nur Fragen, er macht auch Vorschläge und gibt Anregungen – so z.B. mit folgenden fünf einfachen Sätzen: „1. Die Klimakrise ist real und gefährlich. 2. Wir Menschen sind die Ursache. 3. Wir Menschen könnten etwas ändern. 4. Die Fachleute sind sich einig. 5. Es gibt noch Hoffnung.“ (S. 73).

 

Seine Aussagen belegt er in verständlicher Form und mit zahlreichen eindrucksvollen Abbildungen – sowie mit Beispielen von Menschen, die für sich schon Dinge verändert haben. Dabei trifft die/der LeserIn Personen und Ideen aus seinen Sendungen wieder: z.B. Sarah Wiener auf ihrem Bauernhof in der Uckermark. Bei ihr kann frau/man lernen, dass „die Kuh gar kein Klimakiller ist, sondern dass wir Menschen sie mit unserem exzessiven Fleischkonsum erst dazu gemacht haben“ (S. 144). Das Thema (falsche) Ernährung / Lebensmittelverschwendung wird ebenfalls in 5 plausiblen Punkten zusammengefasst und Wege zur Veränderung aufgezeigt - wie: „4. In Deutschland werden Menschen bestraft, die noch brauchbare Lebensmittel aus Containern hinter dem Supermarkt entnehmen. 5. In Frankreich werden Supermärkte bestraft, die noch brauchbare Lebensmittel nicht an gemeinnützige Organisationen spenden oder sie selbst weiter verwenden“ (S.168). Auch interessant (und für mich neu): ab Mitte April sind Überseeäpfel klimafreundlicher als Einheimische, da diese seit ihrer Ernte gekühlt werden müssen (S. 171).

Die Allgegenwart und Auswirkungen von Mikroplaste sind ebenso ein Thema wie unser Umgang mit Bekleidung und Reisen. Sein Vorschlag: „neue Komplimente braucht das Land“. Statt „Hübsches Kleid. Ist das die neue Collection?“ – „Hübsches Kleid. Das hattest du doch neulich auch schon an“ (weitere auf S. 312).

Neben noch vielen anderen Themen gibt es zahlreiche Hinweise auf weiterführende Literaturstellen und seine Stiftung, denn viele Zahlenangaben und Entwicklungen sind beim Schreiben, Drucken und Lesen des Buches schon wieder fortgeschritten. Packen wir´an!

PS – vorher noch mein Lieblingssatz: „Wenn man die Notfallschokolade im Schreibtisch durch Notfallmöhren ersetzt, treten gar nicht mehr so viele Notfälle auf“ (S. 399)



Christian Blasge 

Der Mensch als Rohstoff. Zwischen künstlicher Intelligenz und persönlicher Optimierung. 


Promedia Verlag Wien 2021, ISBN 978-3-85371-485-0, 261 S.


Hier geht es nicht um Schönheitsoperationen oder andere individuelle Veränderungen an Einzelpersonen, sondern um nichts geringeres als um den „Versuch, eine grobe Skizze der Zukunft der Menschen zu zeichnen“ (S. 241).

Christian Blasge, Schullehrer und Fachlehrer im Bereich Ethik, Bewegung und Sport, leitet seine Überlegungen mit der Frage ein „Was ist Philosophie und welche Aufgabe hat sie?“. Keine Angst – dieser Abschnitt ist sehr kurz (er umfasst nur 4 Seiten) – legt jedoch Grundlagen für das Verständnis für die vom Autor im weiteren herangezogenen Texte historischer und aktueller Personen. Ausgangspunkt sind bereits in den 1950er Jahren aufgetauchte Überlegungen dazu, „ob der Mensch nicht mittlerweile hoffnungslos antiquiert, also überholt sei, da ihm die Technik den Rang abgelaufen habe“ (S. 15). Der Medien- und Technikphilosoph Günther Anders, von dem diese provokante Frage stammt, entwickelte dazu drei zentrale Thesen: „(1) Wir sind der Perfektion unserer Produkte nicht gewachsen; (2) wir stellen mehr her, als wir vorstellen und verantworten können; und (3) wir glauben, alles, was wir können, auch zu dürfen, zu sollen, ja sogar zu müssen“ (S. 17). Bei seiner Bearbeitung dieser Thesen bezieht Ch. Blasge im weiteren dann den 2013 erschienen Roman „The circle“ von Dave Eggers mit ein. Zunächst stellt er jedoch den Stand der Forschung auf den Gebieten der Gentechnik, Nanotechnik und Robotik dar um dann die treibenden Kräfte des weltweiten Optimierungswillens zu analysieren. Dabei nimmt die Denkschule des Transhumanismus einen breiten Raum ein (ein transhumanes Wesen soll die Grenzen der menschlichen Natur überwinden können). Einer der Wegbereiter dieser Denkrichtung war Friedrich Nitzsche, dessen Ideen entsprechend umfangreich analysiert werden. 

Eine grundlegende Einschätzung heutiger Technikentwicklung ist, dass „unsere Welt … in erster Linie nicht mehr menschenfreundlich, sondern zunehmend maschinenfreundlich transformiert (wird), sodass Maschinen ihre Arbeit effizient aufnehmen können“ (S. 198). Davon ausgehend wird vor weiteren Gefahren in der gesellschaftlichen Entwicklung gewarnt – fehlende Rücksichtnahme auf die eigene körperliche Gesundheit, da ja Organe beliebig mittels 3D-Technik „nachgeordert“ werden können; mangelnder Datenschutz – oder das weitere soziale Auseinanderdriften der Gesellschaft, da sich bestimmte Optimierungsleistungen nur reiche Menschen leisten können. Dies würde nach Meinung Ch. Blasge´s den sozialen Frieden gefährden (erste Anfänge dieser Entwicklung erleben wir bereits bei der Inanspruchnahme privat zu bezahlender künstlicher Befruchtung und Pränataldiagnostik im Ausland).  

Die dargestellten Möglichkeiten und Utopien dieser Optimierung reichen bis zu einer „andauernden Existenz ohne physischen Körper“. Kurzum, der Autor macht ein Panorama von bereits (zumindest in Ansätzen) vorhandenen neuen technischen Möglichkeiten auf, deren Konsequenzen so erschreckend wie faszinierend zugleich sind. Daher bedürfen sie einer breiten gesellschaftlichen Diskussion bzw. eines neuen Gesellschaftsvertrags.


Jessica Bock 

Frauenbewegung in Ostdeutschland. Aufbruch, Revolte und Transformation in Leipzig 1980 – 2000 


Mitteldeutscher Verlag Halle-Saale 2020, ISBN 978-3-96311-395-6, 460 S.


Frauen(gruppen) spielten in der DDR-Opposition und in den Bürgerbewegungen eine zentrale Rolle – dem steht bisher ihre geringe Rezeption gegenüber. Die Dissertation und das vorliegende Buch widmet die Historikerin diesem Desiderat der zeitgeschichtlichen Forschung. Die Stadt Leipzig befand sich vielfach im Zentrum der informellen Frauenbewegung der DDR und des Umbruchs 1989. Deshalb stehen die Ereignisse, Gruppierungen und Vernetzungen in dieser Stadt im Zentrum der Darstellung. Dazu entwickelt sie zunächst einen eigenen Frauenbewegungsbegriff, da die Entwicklungen in Ost und West nur bedingt vergleichbar wären (So sei es z.B. für die Emanzipationsutopien der Ost-Frauen typisch gewesen, Männer mit einzubeziehen: auch der Feminismusbegriff wurde vielfach abgelehnt). Zu häufig wäre in der Vergangenheit die Frauenbewegung der Ex-BRD zum Maßstab genommen worden um dann zu schlussfolgern, dass es in der DDR keine Frauenbewegung gegeben habe. Forschungsleitend sind für die Autorin dabei zwei Thesen: 1. die Gruppierungen in und um Leipzig hätten die diktatorische und patriarchalische Herrschaft infrage gestellt und stets versucht Erfahrungs- und Handlungsspielräume für Frauen zu schaffen und zu erweitern sowie 2. „Die Vereinigung der beiden deutschen Staaten und die Wahlniederlage des Unabhängigen Frauenverbandes führten nicht zu einem Ende der nichtstaatlichen beziehungsweise ostdeutschen Frauenbewegung. Im Gegenteil… „ (S. 22)

Zu Beginn stellt J. Bock dar, dass es für die DDR typisch war, Lebenssituationen und Probleme literarisch zu bearbeiten.

Bei der sehr detaillierten Darstellung von Personen, Gruppierungen und Aktivitäten räumt J. Bock auch verschiedenen Mythen auf, so z.B. dass Frauen(gruppen) sich vor allem unter dem Dach (und dem Schutz) der Kirche gegründet und getroffen hätten. Vielmehr sei dieses Verhältnis konfliktbeladen gewesen. Und auch die Runden Tische des Bezirks und der Stadt Leipzig hätten zu keinem Bruch mit den patriachalen Verhältnissen geführt (vgl. S. 276). Allerdings seien es bereits damals nicht nur Männer gewesen, die eine Quotierung abgelehnt hätten.

Spannend ist außerdem zu lesen, dass die Beschreibung der Fraueninitiativen nicht 1989 endet, sondern bis zum Jahr 2000 fortgeführt wird – inklusive einer Analyse des Scheiterns der UFV in den ersten gesamtdeutschen Wahlen und der geringen Resonanz des Frauenstreiktages am 8. März 1994. Gerade ostdeutsche LeserInnen (wie die Rezensentin) erinnern sich dazu an wenig gelungen bzw. gescheiterte Aktionen –so z.B. an die nur mäßig wahrgenommene Blockade der Autobahnzufahrt zum Einkaufspark Günthersdorf an jenem 8. März, oder der verlorene Kampf um den Erhalt des Henriette- Goldschmidt-Hauses in Leipzig.

Die vorgelegte Studie ist eine lokale. Es ist ihr nicht nur großes Interesse seitens der AktivistInnen und anderweitig Interessierten zu wünschen, sondern vor allem auch eine Weiterführung zu anderen Städten. Dies schon deshalb, weil Frauen hier nicht als Opfer der Transformation, sondern als Handelnde, als Akteurinnen mit ihren ganz eigenen Erfahrungen, Konzepten und Strategien vorgestellt werden.


Gabriele Winker 

Solidarische Care Ökonomie. Revolutionäre Realpolitik und Klima 


transcript Verlag Bielefeld 2021, ISBN 978-3-8376-5463-9, 211 S.


Die Sozailwissenschaftlerin und Mitbegründerin des Netzwerks Care Revolution (care-revolution.net-org) legt mit diesem Buch das zweite umfassende Werk (das erste „Care Revolution. Schritte in eine solidarische Gesellschaft wurde 20… vom gleichen Verlag herausgegeben) vor. Der vorliegende Text ist nicht nur eine Weiterführung der damaligen Überlegungen, er führt vor allem die care und die Klimabewegung zusammen. Ausgangspunkt dafür ist ihre Überlegung, dass care-Beschäftigte und familär Sorgearbeitende auf hinreichend intakte Ökosysteme angewiesen sind (s. S. 11). Die notwendigen Voraussetzungen dafür würden sich jedoch ohne einen grundlegenden gesellschaftlichen Wandel in den nächsten Jahrzehnten deutlich verschlechtern (s. S. 69). Kapitel 3 beschreibt dies ausführlich, Kapitel 4 wendet sich der Erschöpfung menschlicher Ressourcen zu. Dazu analysiert sie das Verhältnis von bezahlter Lohnarbeit und unbezahlter Sorge- bzw. Reproduktionsarbeit. Insbesondere betont sie nochmals eine Erkenntnis der feministischen zweiten Frauenbewegung, dass „je mehr Reproduktionsarbeit, die den Kauf von Waren ersetzt, unentlohnt neben der Lohnarbeit geleistet wird, desto geringer wird der Wert der Arbeitskraft“ und der Mehrwert erhöht sich (S. 71). Ziel könne jedoch nicht die zunehmende Entlohnung aller Arbeit sein (denn dies würde ihre Wahrnehmung als Ware bedeuten und zu einer Effizienzspirale führen und damit zu Ungunsten der zu Versorgenden ausschlagen), sondern die Zurückdrängung der entlohnten Arbeit (vgl. S. 92). Außerdem führe dies zu einem zunehmenden Zwang zur Selbstoptimierung. 

Für die von Care Revolution (und damit der Autorin) angestrebte transformative Politik sieht sie vier zentrale Aufgaben: 1. Die drastische Verkürzung der allgemeinen Arbeitszeit um mehr Zeit für Sorgearbeit verfügbar zu machen und damit gleichzeitig einen Rückbau ökologisch schädlicher Produktion zu ermöglichen; 2. Den Aufbau einer solidarischen Unterstützungsstruktur: 3. demokratische Strukturen vor Ort, damit die Bedürfnisse aller wahrgenommen werden und alle mitentscheiden können und 4. die Entwicklung von Gemeinschaftsprojekten (s. S. 138-139). Zu erstgenanntem Punkt sei insbesondere die Reduzierung von Vollzeiterwerbstätigkeit notwendig. Natürlich sei dies auch notwendige Voraussetzung nicht nur für Sorgearbeit (gemeint ist dabei immer Selbstsorge sowie Sorge für andere) sondern auch Zeit für die unter Punkt 3 genannte Teilhabe an demokratischen Strukturen zu haben. Zu Punkt 2 gehöre der Aufbau einer sozialen Infrastruktur, bisher sei diese in hohem Maße nur  auf die Unterstützung von Erwerbstätigkeit ausgereichtet. Zu Punkt 4 werden dann eine Reihe von kooperativen Organisationsformen vorgestellt, die bereits erfolgreich arbeiten. Dabei habe sich gezeigt, dass dies primär keine Motivationsfrage sei (wie häufig angenommen), sondern vor allem eine Frage der Organisation in einer Gesellschaft „in der es keinen Markt und keine staatliche Planung mehr gibt, die Koordination zwischen Beiträgen und Bedarf zu organisieren“ (S. 176). Konsequent plädiert sie daher auch für ein bedingungsloses Grundeinkommen.


Barbara Peveling Nikola Richter (Hg.) 

Kinderkriegen. Reproduktion reloaded 


Edition Nautilus GmbH Hamburg 2020 ISBN 978-3-96054-253-7   351 S.


“26 essayistische Erfahrungsberichte werfen Schlaglichter auf aktuelle Fragen rund um Reproduktion und Familie“ heißt es auf dem Waschzettel. Einige von ihnen sind verstreut in anderen Publikationen bereits erschienen – den Reiz dieses Buches macht daher gerade die Zusammenstellung dieser vielstimmigen Texte von Frauen und Männern mit und ohne (gewollte und ungewollte) Kinder aus. Anstelle eines Vorworts steht ein Chat dreier Frauen, der die Idee und Umsetzung dieses Buches beschreibt und bereits den Finger auf eine Reihe von Defiziten unserer aktuellen Familienpolitik legt. So heißt es z.B. etwas überspitzt: „Der Frauenkörper wird stetig überwacht, verwaltet und auch verkauft, bis hin zu Leihmutterschaften, aber die Mutter mit dem Kind wird eher alleine gelassen“ (S. 11).


Im Text werden nicht nur die modernen Reproduktionstechnologien thematisiert, sondern auch die davor auftretenden persönlichen und gesellschaftlichen Fragen – u.a. „ob die Welt wirklich noch ein Kind braucht und wenn ja, von mir?“ (vgl. S. 27). Erfreulicherweise wird bei diesen gesellschaftspolitischen Fragen die „deutsche weiße“ Perspektive verlassen und ebenso nach anderen Ethnien gefragt bzw. rassistische Vorurteile gegen Mutter und Kind angesprochen.

Die jeweiligen Erzählungen bieten dabei nicht nur tiefe sehr persönliche Einblicke zur Entscheidung für oder gegen ein (weiteres) Kind, sondern außerdem in zurückliegende Entwicklungen der Ex-BRD (leider fehlt entsprechendes für die DDR). Interessant dabei die beschriebene Wandlung: „Man braucht keine Gründe mehr um zu verhüten, man braucht im Gegenteil einen Grund, um schwanger zu werden“ (S. 82). Ferner wird die „Logik des zweigeschlechtlichen Systems“ hinterfragt (S. 84) und an dieser Stelle auf ungenügende Forschungsdesigns zum Reproduktionsgeschehen. So würden Männer bzw. Väter häufig nicht mit eingezogen. 

Spannend zu lesen ist der Essay „Auch tote Kinder werden groß“ – ein im Zusammenhang mit Reproduktionsmedizin meist wenig beachtetes Thema. Hierzu wäre gleichfalls eine geschlechterdifferenzierte Perspektive in der Forschung interessant, denn die Autorin dieses Essays resümiert: „Doch heute hat mein Mann zwei Kinder, ich drei. Das ist der Unterschied“ (S. 118).

Angesprochen werden daneben Themen wie Leihmutterschaft im Ausland, behinderte Frauen als Mütter (hier fehlt wiederum das männliche Pendant), Abtreibung, Pränatest.

Das Buch bietet durch seine unkommentierten sehr persönlichen Erzählungen viel Stoff für anregende Diskussionen und eigenes Nachdenken. Gerade weil es technische Details ausspart und stattdessen die Gefühlswelt der einzelnen Personen zu Wort kommen lässt, regt es dazu an.


Christine Wimbauer 

Co-Parenting und die Zukunft der Liebe. Über post-romantische Elternschaft. 


transcript Verlag Bielefeld 2021 ISBN 978-3-8376-5503-2   259 S.


Der Fokus des Buches, so die Autorin, liegt auf einer besonderen Beziehungsform von zwei (oder mehr) Menschen, die sich nicht lieben, jedoch zusammen eine Familie gegründet haben. Das können verschiedene Konstellationen sein – ein lesbisches Paar, das mit einem Mann oder einem Männerpaar eine Familie gründet; einzelne Personen, denen die Anforderungen des Studiums oder Berufes keine dauerhafte Liebesbeziehung erlauben; ein Paar, dessen einer Teil kein Kind möchte oder jemand, der von früheren Beziehungen enttäuscht ist…

Im Buch werden zunächst das Leit- (oder Leid-)bild der romantischen Liebe in der Geschichte vorgestellt, Stärken, Herausforderungen und Fallstricke der modernen Kleinfamilie um dann den Begriff co-parenting sowie die Vor- und Nachteile dieser Beziehungsform zu erläutern. Dabei wird sowohl auf fehlende bzw. mangelhafte gesetzliche Grundlagen für diese Elternschaft eingegangen sowie auf bisher wenig vorhandene Forschungen zu diesen Familienkonstellationen.

Zum Begriff arbeitet die Soziologin Ch. Wimbauer heraus, dass Co-Parenting vor allem den aktiven Aspekt des gemeinsamen Erziehens von Kindern und weniger den Status von Elternschaft betont (vgl. S. 89); schon gar nicht ginge es um romantische Liebesbeziehungen zwischen den Eltern. Insofern geht die Autorin zunächst den Fragen nach, was Menschen dazu bringt, eine Co-Elter-Familie zu gründen, welche Hoffnungen und Ängste mit dieser Entscheidung verbunden sind. Außerdem wird gezeigt, dass Co-Parenting theoretisch wie empirisch mehr Geschlechtergleichheit und Abhängigkeit erzeugt (s. S. 117ff). Gleichzeitig ist diese Beziehungsform pragmatischer und von „so manchem Erwartungsballast befreiter“. Die ausgedehntere Verteilung der Verantwortung ist dabei nicht nur durch mehr Schultern der Eltern gegeben, sondern auch durch eine größere Zahl von Großeltern, Onkeln, Tanten etc. Dadurch wird auch die Isolationsgefahr für Mutter oder Kinder  „in der kleinbürgerlichen heimischen Abgeschiedenheit“ geringer und es gibt „keinen emotionalen, verschleiernden Kitt, der soziale Ungleichheiten und ungleiche Anstrengungen im Namen der Liebe unsichtbar machen könnte“ (S. 162). Abhängigkeiten von einem männlichen Familienernährer sind kaum vorhanden, allerdings zahlreiche gesetzliche Defizite (z.B. hinsichtlich Adoption, Entscheidungen im Krankheitsfall, Erbschaft etc. bei „Ausfall“ eines Elternteiles).

Am Ende des Buches wird ausführlich auf diese Schwierigkeiten (und deren mögliche Regelungen) eingegangen sowie auf notwendige weitere Forschungsfragen -  u.a. wie ist „das Verhältnis der Co-Eltern zueinander? Wie finden diese Familien ihre Handlungsroutinen und welche sind das? Wie werden Aushandlungen geführt und welche sind das?“ (S. 243). Noch spannender wird es, wenn der eurozentristische Blick verlassen wird und eine länder- gesellschafts- und kulturübergreifende Analyse gewählt wird. Sowohl diese als auch viele weitere anregende Diskussionen sind diesem Forschungsgegenstand bzw. Buch zu wünschen!



Lou Zucker 

Clare Zetkin Eine rote Feministin 


Verlag das Neue Berlin 2021 ISBN 978-3-360-01348-4 151S.


Die Journalistin Lou Zucker hat eine neue Biografie zu Clara Zetkin geschrieben. So etwas geschieht öfter. Was dieses Buch aus der Reihe „üblicher“ Biografien heraushebt ist erstens seine Aufmachung: ganze Seiten im Lila des Feminismus mit spritzigen aktuellen Bonmots wie z.B. „Der Feminismus ist innerhalb weniger Jahre vom Coolness-Level von Wollsocken und Dinkelnudeln aufgestiegen zu etwas, womit man seinen Instagram-Account schmücken, sein Unternehmen als tollen Arbeitsplatz präsentieren, sein Produkt verkaufen kann“ (S.7); zahlreiche Bilder und Faksimiles (diese wohltuend so groß gedruckt, dass sie bequem lesbar sind); lange hervorgehobene (natürlich ebenfalls lila) Auszüge aus ihren Reden und Texten, eine Zeitleiste (Farbe muss ich nicht mehr nennen) und und und.

Zweitens ist dies m.E. die erste biografische Arbeit, die Clara Zetkin konsequent in die Reihen des Feminismus stellt – ohne sich dabei in theoretischen Begründungen dafür zu ergehen, sondern schlicht durch Erzählungen über ihr Leben („wilde Ehe“ mit einem 15 Jahre jüngeren Mann und viele andere Episoden) bzw. ihre Ansichten zur Frauenfrage in der Arbeiterpartei – gegen vielfältigen Widerstand ihrer damaligen Genossen (hier steht bewusst nur die männliche Form). So war sie nicht nur eine der ersten Rednerinnen auf Arbeiterversammlungen überhaupt, sondern trug auch entscheidend bei zur Erringung des Frauenwahlrechts. Initiierung öffentlicher Frauenversammlungen am Frauentag (wie überhaupt dessen Durchführung in Deutschland) gehörten ebenso zu ihren Aktivitäten wie die jahrelange Betreuung der „Gleichheit – Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen“ („Aktivitäten“ – ist hier der korrekte Begriff, da Clara Zetkin nicht nur die meisten Artikel selbst schrieb, sondern diese auch redigierte, zur Druckerei trug, sich um Abonnentinnen kümmerte etc.). 

Eine der Fragen, der sie sich zuwandte, war der Kampf gegen den § 218. Clara hatte sich schon immer gegen diesen, aus der Kaiserzeit stammenden Paragrafen ausgesprochen – NB auf Versammlungen mit über 4000 Zuhörerinnen. Auch in den Mitte der 20er Jahre in der Sozialdemokratie aufflammenden Debatten über einen Gebärstreik stellt sie sich konsequent auf die Seite der Frauen: „Es ist Quacksalberei, …wenn man dem Proletariat als dessen revolutionäre Waffe neben der politischen und gewerkschaftlichen Bewegung den Gebärstreik anpreist. Das ist eine bürgerliche … anarchistische Auffassung, denn sie betrachtet nicht das Proletariat als Klasse, sondern die einzelne Familie und schlägt statt der Massenaktion eine bestimmte individuelle Lebensgestaltung vor“.  Und: „Was nützt den Frauen das Wahlrecht, wenn sie nicht einmal über ihren eigenen Körper bestimmen dürfen?“. Ein Satz, der heute noch genauso aktuell ist, wie vor 100 Jahren! Möge er auch am diesjährigen 8. März weltweit erschallen – auf Demos und Versammlungen mit und ohne Maske, jedoch mit vielen Frauen!


Margarete Wein 

Das kleine Schwarze – ein rotes Tuch. Ein Spaziergang durch die Welt der Farben 


Edition Noack &Block Berlin 2020 ISBN 978-3-86813-107-4, 389 S.


Auch wenn frau kein „kleines Schwarzes“ besitzt wird sie dieses Buch mit Gewinn lesen, denn anders als der großgedruckte Titel und das Cover assoziieren geht es in diesem Buch nicht um (Damen)Mode, sondern wie der kleingedruckte Untertitel angibt um einen „Spaziergang durch die Welt der Farben“. Dabei kommt dieser Parcoursritt durch teilweise ermüdend lange Aufzählungen von Farbnamen (hier wäre weniger mehr gewesen) ganz ohne Bilder aus und lässt somit der eigenen Phantasie freien Lauf.

Das Buch gliedert sich nicht nach Farben (Ausnahmen: es gibt jeweils eigene Kapitel für die Farben grün, blau und rot), sondern nach Bereichen, in denen Farben auftreten bzw. gezielt genutzt werden – in der Küche, der Werbung, der Politik etc. In den jeweiligen Gebieten werden sowohl ursprüngliche Zuordnungen, als auch später aufgetretene Bedeutungswandlungen beschrieben – so für das „Schwarzbuch“ (S. 121) oder für die gelbe Schleife (S. 128). Schleifen als Protestzeichen ist ein ebenso spannender Abschnitt, wie die Begründungen für bestimmte Farben in einzelnen Berufen. 

Es werden jedoch nicht nur diese Zuordnungen angesprochen, sondern auch die Erforschung des Spektralfarbendiagramms durch Herrmann von Helmholtz oder das Farbmischungsdreieck von James Clerck Maxwell (S. 315) – dies allerdings in einem Kapitel überschrieben mit „Naive Farbauswahl oder Psychoterror pur? oder: Zwischen Selbstbestimmung und Manipulation“, in dem zumindest die Rezensentin diese naturwissenschaftlichen Erläuterungen nicht vermutet und gesucht hätte. Hier macht sich das Fehlen eines Stichwortverzeichnisses besonders schmerzhaft bemerkbar. Dafür gibt es jedoch am Schluss Hinweise auf zahlreiche weiterführende Sachbücher zum Thema.

Für die Hallenser Leserschaft interessant dürften auch die zahlreichen Beispiele auf Hallenser geografischen und (Firmen)Namen sein, bei denen Farben eine Rolle spielen.


Joni Seager 

Der Frauenatlas. Ungleichheit verstehen


164 Infografiken und Karten. Carl Hanser Verlag München ISBN 978-3-446-26829-6, 208 S.


Die Autorin ist Professorin für Global Studies an der Bently University in Boston und als Geografin gefragte Expertin für globale Strategien in der Politik. Die ausführlichen Texte und Karten wurden von Renate Weitbrecht und Gabriele Würdinger exzellent übersetzt – so dass nicht nur ein Nachschlagewerk über die Situation von Frauen entstanden ist, sondern „eine feministische Neukartierung der Welt“, so die Autorin in ihrem Vorwort. „Im vergangenen Jahrzehnt erlebten viele Frauen rund um den Globus eine absolute Verschlechterung ihrer Lebensqualität. Verbesserungen in einem Ort sind nicht unbedingt auf andere Orte übertragbar. Wir bleiben eine geteilte Welt“ (S. 8). J. Seager hat zur Veranschaulichung dieser Situation den Weg der Kartierung gewählt, da dies „ein hervorragendes Hilfsmittel sei, um Muster, Kontinuitäten und Gegensätze aufzuzeigen“ (S. 10).

Der Atlas gliedert sich in 9 Bereiche: Frauen in der Welt; Wie Frauen „in ihre Schranken gewiesen werden“; Geburtsrechte; Körperpolitik; Gesundheit; Arbeit; Bildung und Vernetzung; Besitz und Armut; Macht. Die jeweiligen Schwerpunkte werden mit einem kurzen Text eingeleitet, der neben der Begriffserläuterung auch die jeweils genutzten Messinstrumente darstellt. Neben so bekannten Statistiken wie gender gap, Lebenserwartung, rechtlicher Status von Lesben und Schwulen, Sexhandel finden sich viele sonst nur mühsam einzeln zu ermittelnde Sachverhalte wie z.B. Zugang zu Toiletten (selbst in den USA hatten 2015 1,3 Mio Menschen keine kompletten Sanitäreinrichtungen in ihren Haushalten), Frauen bei olympischen Spielen (erst 2016 waren Frauen in allen Sportarten vertreten) u.a.m.

Dabei werden nicht nur Fakten und historische Entwicklungen aufgezeigt, sondern auch die Entwicklung bestimmter Einstellungen – z.B. zum Cybermobbing. Weiterhin werden auch die Fakten „hinter der offiziellen Version“ angegeben – z.B. dass „allgemeines Wahlrecht“ eben nicht wirklich allgemein sei (S. 186) – alles im Kontext der historischen Entwicklung mindestens der letzten 100 Jahre. Gerade diese geschichtlichen Darstellungen erweitern den Blick – so gab es z.B. seit der Gründung der Vereinten Nationen keine Frau als Generalsekretärin.

Das umfangreiche Quellenverzeichnis ermöglicht weiteres Lesen zum jeweiligen Thema – insofern ist dieser Atlas für mich ein Arbeits- und Anschauungsmaterial, das ich nicht mehr missen möchte (im Nachhinein unvorstellbar, wie ich bisher ohne auskommen konnte).


Almut Schnerring,Sascha Verlan 

Equal care. Über Fürsorge und Gesellschaft 


Verbrecher Verlag Hamburg ISBN 978-3-95732-427-6, 159 S.


Die AutorInnen wollen mit diesem Buch dazu einladen, „diese Gesellschaft und ihr Wirtschaftssystem mal aus dem Blickwinkel der Fürsorge zu betrachten“ (S. 10). Zunächst wird der Begriff „care“ analysiert, hat er doch keine genaue deutsche Übersetzung. „Das Wort Pflege wird fast ausschließlich mit der beruflichen Alten- und Krankenpflege assoziiert, Fürsorge klingt nach Wohlfahrtsverband und staatlicher Intervention, Kümmern nach vorgestrigen Rollenklischees und Reproduktionsarbeit nach marxistischem Szenejargon, Haus- und Familienarbeit wiederum klingt nach Staubwedel, Makramee und Pömpel und Sorgearbeit nach einer ungeschickten Neuschöpfung“ (S. 26). Wie alles, was nicht klar umrissen ist, könne diese Arbeit auch nur schwer gemessen werden und tauche daher in entsprechenden Zeitverwendungserhebungen und Untersuchungen nicht auf. 

Zu Recht verweisen die Autorinnen darauf, dass care Arbeit auch ein Bewusstseinsprozess ist und stellen dazu in zwei Exkursen Fragen wie „Wer hat sich im Vorfeld über Geburtsort und Geburtshilfe erkundigt, eine Hebamme gefunden?“ (S. 31) oder: “Wer führt eigentlich Protokoll? Wer stellt Fragen, wer hört zu? Wer kümmert sich um die Geburtstage von KollegInnen?“ (S. 119). Die von ihnen aufgeworfenen und die care Arbeit beschreibenden Fragen ziehen sich durch von der Familienplanung bis zur Betreuung Sterbender – d.h. über das gesamte Leben – das eigene und das anderer. Diese Tätigkeiten (meist von Frauen verrichtet) sind dabei häufig weder plan- noch aufschiebbar (ein Kind oder eine inkontinente zu pflegende Person muss gleich gewickelt werden; bei Fieber müssen sofort Maßnahmen ergriffen werden etc.). Diese Sorge für andere führt auch zu mehr Achtsamkeit gegenüber sich selbst und den Bedürfnissen des eigenen Körpers bzw. der Seele – dies sei ein wichtiger Grund, so Schnerring/Verlan, warum Frauen im Schnitt 5 Jahre länger als Männer leben. Das heißt, so ihre These, wenn Männer mehr Sorgearbeit übernehmen würden, käme dies letztendlich auch ihrer eigenen Lebenserwartung zu gute. Die Konzentration auf Berufstätigkeit als Lebensinhalt führe bei Männern außerdem nach der Berentung mit zur höheren Suizidrate im Vergleich zu Frauen (S. 55)

Weiterhin verbinden sie die Lösung der sozialen Frage mit der Lösung der ökologischen Frage – beide Bereiche dürften nicht gegeneinander ausgespielt werden. Gerade die häufig als Ausweg angesehenen technischen Lösungen hätten den Nachteil, dass sie sowohl in der Produktion als auch im Einsatz viel Energie verbrauchen.

Ein weiterer Aspekt, den die AutorInnen herausarbeiten, ist, dass die Verlagerung von Sorgetätigkeiten überwiegend auf Frauen eine Erziehungsfrage ist, die dringend geändert werden muss – sowohl in der schulischen Bildung (Wiederaufnahme in die Lehrpläne; der italienische Bildungsminister hatte den Vorschlag gemacht, konsequenterweise noch weiter zu gehen und care, Fürsorge insgesamt zum Maßstab schulischer Bildung zu machen), als auch bei der Schaffung entsprechender Vorbilder in den Medien, sowie durch entsprechende Gesetze. Zu Recht prangern sie die kürzere Schonzeit nach der Geburt an, sowie „die unwürdige Diskussion auf EU-Ebene, ob zwei Tage Vaterschaftsurlaub nach der Geburt nicht mehr als genug seinen“(S. 83). Letztendlich setze sich diese Geringschätzung der Arbeit am Lebensanfang auch bei der mangelnden Fürsorge am Lebensende fort.

Weiterhin müsse sauber mit Begriffen gearbeitet werden – das meist gebrauchte Wort „Pflegenotstand“ mache die Pflege zum eigentlichen Problem und entlasse die Krankenkassen, die Unternehmen im Gesundheitssektor und die Politik aus ihrer Verantwortung (S. 93).  Am Ende des Buches finden sich „Wege in eine fürsorgliche Demokratie“.


Gabriele Habinger 

Frauen reisen in die Fremde. Diskurse und Repräsentationenvon reisenden Europäerinnen im 19. und 20. Jahrhundert. 


Promedia Verlag,Wien 2006, ISBN 3-85371-254-1, 398 S.


Wenn   frau   in   Zeiten   von   Corona   physisch   nicht   reisen   darf   –   versucht   sie   es wenigstens   in   Gedanken   bzw.   beschäftigt   sich   mit   Reiseliteratur.   Bei   meiner   Suche nach   entsprechendem   Schriftt um   fiel   mir   die   schon   vor   einiger   Zeit   als   Buch erschienen Dissertation der österreichischen Autorin Gabriele Habinger in die Hände – sie   hat   Völkerkunde   und   Publizistik   studiert   und   sich   als   Herausgeberin   der   Reihe „Edition   Frauenfahrten“   seit   Jahren   mit   Reisen   von   Frauen,   deren   Historie, besonderen   Blickwinkeln   und   Art   der   anschließenden   Publikation   beschäftigt. Besonderes   Augenmerk   legt   sie   dabei   u.a.   Fremdwahrnehmung,   Rassismus   und Verknüpfung von kolonialen westlichen Diskursen mit Gender-Theorien. Der vorliegende Band untersucht Reisen von Europäerinnen im 19. und angrenzenden Jahrzehnt   in   außereuropäische   Gebiete   –   natürlich   spielen   Österreicherinnen   dabei eine wichtige Rolle, vor allem Ida Pfeiffer. Ausführlich   erläutert   sie   zunächst,   dass   Reisen   zu   dieser   Zeit   „männlich   besetzt“ waren,   was   zu   zahlreichen   Konflikten   führte   –   mussten   Frauen   doch   unterwegs Eigenschaften an den Tag legen, die als typisch männlich galten – und gleichzeitig ihre Weiblichkeit   wahren,   um   nicht   als   „unmoralisch“   in   Verruf   zu   geraten.   Dies widerspiegele sich nicht zuletzt in den von ihnen publizierten Berichten angegebenen Motivationen für ihre Reisen (häufig Glaube als Legitimation, jedoch auch das Anlegen von   naturkundlichen   Sammlungen).   Nichtsdestotrotz   wurde   immer   wieder   versucht, Frauen   von   ihren   Reisen   abzuhalten,   sie   wurden   lächerlich      gemacht   (u.a.   in Karikaturen   –   das   Buch   enthält   dankenswerterweise   nicht   nur   dazu   eine   Reihe   von Beispielen   dafür,   sondern   auch   zur   Kleidung   der   Reisenden,   „Reisemittel“   und Abbildungen der Protagonistinnen und der von ihnen getroffenen Menschen) und ihre Berichte   wurden   angezweifelt.   Weibliche   Mobilität   wurde   ebenso   behindert,   wie weibliche   Bildung.   In   ihren   Analysen   zur   bürgerlichen   Gesellschaft   hierzu   geht   die Autorin   weit   über   das   Thema   Reisen   hinaus   und   schafft   damit   nicht   nur   den notwendigen   Kontext   zur   Einordnung   ihres   Themas,   sondern   zeichnet   auch   ein faszinierendes Bild der damaligen Verhältnisse im scheinbar „aufgeklärten“ Europa. Dass  diese   Frauen   Pionierarbeit   sowohl   in   „Raumaneignung“   (auch   dieses   Konzept wird   ausführlich   erläutert),   Forschung   und   Bildung   ihrer   Gesellschaft   leisteten   zeige sich nicht zuletzt darin, dass sie von ihren  Zeitgenossen als Konkurrenz um knappe Ressourcen   und   Möglichkeiten   betrachtet   wurden.   Allerdings   wäre   es   verkehrt,   die reisenden Europäerinnen als „Ikonen der Frauenbewegung“ zu stilisieren. G. Habinger geht dezidiert der Frage nach, „ob europäische Reiseschriftstellerinnen auf Grund der eigenen Unterdrückungserfahrungen in einer patriarchalen Gesellschaft eher als ihre Kollegen   Solidarität   oder    ́weibliche   Empathie ́   für   Menschen   aufbringen,   die,   wenn auch   in   anderem   Kontext,   ebenfalls   Unterdrückte   sind“   (S.   26).   Sie   verneint   diese Frage       nicht       nur,       sondern       bezeichnet       die       reisenden       Frauen       als Emanzipationsskeptikerinnen (S. 120). Gleichwohl nützten diese vielfach das Stilmittel der Kritik an Zuständen in der Fremde, um europäische Tatsachen und Haltungen zukritisieren. Grundpfeiler und Maßstab bleibt dabei jedoch stets Europa.Das   Buch   insgesamt   ist   eine   Fundgrube   –   nicht   nur   für   Reiseliteratur   aus   einer anderen   Zeit   (dankenswerterweise   werden   die   Protagonistinnen   vielfach   ausführlich zitiert,   so   dass   Neugier   entsteht,   die   kompletten   Texte   zu   lesen),   sondern   auch   für HistorikerInnen, Gender-ForscherInnen, EthnografInnen etc.


Hilde Schmölzer 

Frauenliebe. Berühmte weibliche Liebespaare der Geschichte.


Promedia Verlag Wien 2009, ISBN 978-3-85371-295-5, 266 S.


Ein Buch voller Liebe und Leidenschaft – jedoch auch Eifersucht, Trennung und Schmerz. Die österreichische Journalistin beschreibt nicht nur das Leben von sieben mehr oder weniger bekannten Liebespaaren (teilweise hebt sie damit auch eine der beiden Frauen aus dem Vergessen), sondern gibt zunächst eine kulturgeschichtliche Einführung   in   die   jeweilige   Zeit   und   das   vorherrschende   Verständnis   von Homosexualität.   So   ausführlich   wie   die   Liebesbriefe   der   beiden   Protagonistinnen werden   dazu   ebenfalls   die   zeithistorischen   „wissenschaftlichen“   Auffassungen   zu Frauenliebe   zitiert,   sowie   die   Vorstellungen   von   ZeitgenossInnen   der   jeweiligen Protagonistinnen zu deren Art und Weise des Umgangs miteinander. Eingeleitet wird das Buch mit einem Kapitel zu „Sodomiten, Tribaden, Lesbierinnen“ –allerdings   sind   bis   zur   frühen   Neuzeit   wenig   Originalquellen   erhalten   -   aus unterschiedlichen Gründen: zum einen konnten nur wenige Frauen damals schreiben (und es gibt also schlicht keine eigenen Texte von ihnen), zum anderen kamen sie in der männlich dominierten Wissenschaft als Paare schlicht nicht vor. Insofern beginnt diese Zeitreise mit Bettine Brentano und Karoline von Günderrode. Damals wie heute „bedeutet Lesbisch sein die Verwirklichung einer Alternative zur männlichen Kultur, jetzt allerdings nicht nur im Innenraum privater Freundschaften, sondern ebenso als Ausdruck eines politischen Bewusstseins, das den Frauen im 18. und 19. Jahrhundertverwehrt war“ (S. 15). Dies widerspiegelt sich nicht nur bei diesen beiden, sondern vor allem auch bei George Sand und Marie Dorval, sowie weiteren Paaren. Alle Frauen sind sehr liebevoll abgebildet – ebenso gefühlvoll ausgewählt die von ihnen stammenden Gedichte an die Partnerin, teilweise unter Pseudonym erschienen Text(ausschnitte) und erhalten gebliebenen Beschreibungen von ZeitgenossInnen. Neben der Erläuterung von heute kaum noch bekannten Begriffen (z.B. „Boston-Ehe“) wird auch auf die Entwicklung vor allem der österreichischen Frauenbewegung (im Kapitel   über   Auguste   Fickert   und   Ida   Baumann)   sowie   auf   die  Geschichte   der Sexualforschung   (schließlich   wurde   das   Buch   ja   auch   in   Wien   herausgegeben) eingegangen - und auf die durch häufige Flucht und Auseinandersetzungen mit der Gestapo geprägte  Beziehung von Anna Freud und Dorothy Burlingham.

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